fichtig und ralsch

felix schwenzel, , in notiert    

jandl: lichtung

Stefan Niggemeier: Wenn wir jetzt alle aufhören, uns über Ihre Texte zu beklagen, schreiben Sie andere Texte?
Harald Martenstein: Ja, sofort.

stefan niggemeier und harald martenstein haben sich zusammengesetzt und geredet. hier kann man das jetzt auch ohne übermedien-abo lesen. das zitat oben fasst das gespräch im prinzip aber bereits ganz gut zusammen: unterhaltsam, aber leider auch quatschig. witzig und gleichzeitig unendlich deprimierend. grandioser schlagabtausch, bei dem zu viele schläge danebengehen.

was mich an dem gespräch aber am meisten erschüttert hat: ich kann mich (zu grossen teilen) mit den aussagen beider identifizieren.

martenstein weist mehrfach darauf hin, dass es ihn motiviere, wenn er gegenwind bekommt und dass er besonders gerne positionen einnimmt oder verargumentiert die gerade (vermeintlich) unpopulär sind. manchmal mache es ihm auch spass, wenn „gewisse leute sich aufregen“.

diese art zwanghafter individualismus ist mir nicht fremd. ich schweige eher zu den themen die ohnehin alle beackern und wenn ich doch etwas schreiben möchte, versuche ich zumindest vorab gedanklich die gegenposition einzunehmen. mich reizt der sportliche aspekt des gegenposition einnehmens, seit ich in der amerikanischen highschool für schuldebatten dazu motiviert wurde. am ende reicht beim bloggen meine vor- und verstellungskraft (oder auch der mut) oft nicht aus, um dann auch tatsächlich gegenpositionen zu veröffentlichen. meistens ende ich dann in wild herumdifferenzierenden artikeln.

trotzdem, die (gezielte) provokation ist im prinzip die essenz des bloggens, die ich immer wieder in den letzten 15 jahren praktiziert habe. zuspitzung, gezielte provokation, frontale kritik machen spass und generieren aufmerksamkeit. genau diese gezielten provokationen durch elaborierte, möglichst pointenreiche kritik ist übrigens auch für das kribbel beim veröffentlichen verantwortlich. die aufmerksamkeit die ich in der regel suche ist auch gar nicht die von möglichst vielen, sondern meistens ganz speziell die der angegriffenen. im prinzip dient das ganze bloggedöns — und wahrscheinlich auch das kolumnenschreiben — auch immer der selbstvergewisserung. ich bin, weil ich reaktionen hervorrufe.

da unterscheiden sich verhaltensauffällige kinder wenig von bloggern oder kolumnisten. mit ein paar jahrzehneten lebens- und schreiberfahrung funktioniert die aufmerksamkeitserzeugung zwar viel ausgefeilter, pointenreicher und eleganter als in jungen jahren, aber die motivation ist die gleiche: es geht nicht darum der weltbeste (in irgendwas) zu sein oder sich mit den besten, grössten zu messen, der adressat, der gegner an dem man sich messen möchte ist immer der, der im sichtfeld sitzt. es geht nicht um richtiges oder falsches verhalten, es geht darum reaktionen von leuten im eigenen sichtfeld zu erzeugen. egal ob man applaus oder buhrufe hört, wichtig ist auf der bühne zu stehen, in der aufmerksamkeit, egal wie viele im saal sitzen.

diese fixierung auf die rezeption lässt sich im grunde natürlich schwer mit dem oben erwähnten individualitäts- oder autarkieanspruch vereinbaren, individuell ist da gerade noch die skepsis gegenüber dem mainstream oder dem massengeschmack und der fähigkeit eben auch ablehnung positiv zu rezipieren.

provokation oder das intellektuelle herumtänzeln um positionen ist auch eine art sport. positionen einzunehmen hinter denen man vielleicht gar nicht steht oder die den eigenen überzeugungen widersprechen ist intellektueller kraftsport. und wie beim kraftsport besteht immer die gefahr das aus dem annehmen von herausforderungen protzerei wird.

so sehr ich mich mit vielen identifizieren konnte was martenstein im gespräch sagte, eins wurde im laufe des gesprächs deutlich: durch den kontrast zu stefan niggemeiers ernsthaftigkeit, wirkten die provokantions-strategien martensteins plötzlich total infantil.

die fragen, mit denen stefan niggemeier offensichtlich ständig ringt, was ist richtig, was ist falsch, welche nebenwirkungen kann mein verhalten haben, stellt sich harald martenstein gar nicht. zumindest nicht ernsthaft. er ist auf der suche nach intellektuellen herausforderungen und rationalisiert das mit dem kampf für meinungspluralismus. dissidenz, abweichung von einem vermeintlichen „mainstream“ scheinen für martenstein selbstzweck zu sein. martenstein scheint sich in der rolle des kanarienvogel im meinungsfreiheitsbergwerk zu gefallen. er verfechtet irgendwelche ansichten, gesichtspunkte, die er in der öffentlichen debatte vermisst, themen bei denen bei „vielen Leuten in dieser Gesellschaft ein gewisser Unwille entstanden ist“ — ausschliesslich um (sich) zu unterhalten und die grenzen auszutesten:

Räumen wir also probehalber ein, dass Sie Recht haben in dieser Frage. Dann muss es trotzdem legitim sein, anderer Ansicht zu sein. Das ist nicht gefährlich. Gefährlich wird es in einer Gesellschaft, wenn man keine Dissidenten-Ansicht mehr äußern darf. Unterdrückung ist gefährlich. Eine Dissidenten-Ansicht ist nicht gefährlich.

diese rationalisierung des eigenen spieltriebs, der lust an der intellektuellen herausfforderung, ist mir bei aller liebe zu martenstein doch etwas zu narzistisch. wie gesagt, ich bin hin und her gerissen. mir sind die motive von martenstein nicht fremd. ich verstehe seine haltung und seine rationalisierungen sind nicht dumm. was mir aber bei martenstein fehlt ist die einfache frage: was ist richtig? nachdem ich das gespräch gelesen habe, scheint mir diese frage für martenstein überhaupt keine relevanz zu besitzen.

Stefan Niggemeier: Die Frage ist doch: Von welcher Seite droht gerade die größere Gefahr für die bunte Gesellschaft. Haben Sie nicht das Gefühl, dass Sie eigentlich gegen die falschen kämpfen?
Harald Martenstein: Ich kämpfe ja nicht.
Stefan Niggemeier: Natürlich kämpfen Sie.
Harald Martenstein: Meinetwegen. Ich kämpfe gegen bestimmte Auswüchse, ich kämpfe gegen Übertreibungen.

martenstein turnt hoch oben in den metaebenen, niggemeier ringt mit sich und der welt auf dem boden.
in der metabene braucht man keine haltung, nur positionen die man aber beliebig wechseln kann.

übermedien.de: „Man sollte mit der Verteidigung der Freiheit nicht warten, bis es keine mehr gibt