„ich dachte ihr wärt jünger“

felix schwenzel, , in wirres.net    

der freischreiber-kongress begann gestern mit einer mittelschweren recherche-aufgabe: finde den eingang. ich habe nicht wenige orientierungslose freischreiber in bahrenfeld herumirren gesehen. die ausschilderung des gewerbegebiets in dem sich die macromedia hochschule in haus 6 befinden soll ist nicht sonderlich hilfreich. ebensowenig die informationen auf der freischreiber-seite. um den schwierigkeitsgrad zu erhöhen, wurde der eingang sowohl von macromedia, als auch den freischreibern äusserst minimalistisch gekennzeichnet.

eingang macromedia hochschule

in der ersten etage herrscht in der „hochschule“ erstklassige graue kunstoff-kanten-schul-möbel-atmosphäre mit einer priese gummibaum-büro-atmosphäre, die mich an eine meiner vielen post-pubertären phobien erinnerte. damals hatte ich wirklich panische angst einmal als kaufmännischer-angestellter zu enden. obwohl ich die phobie längst überwunden habe, fühlte ich mich gestern in der macromedia hochschule wie ein kaufmännischer angestellter in der berufsschule.

seminarraum macromedia hochschule

sehr praktisch hingegen die eingebauten cupholder in den tischen.

flur macromedia hochschule

der erste workshop den ich mir um 10 uhr ansah war „Ich will doch nur schreiben – aber wer macht den Rest?“ betitelt. auf dem podium sassen die grossartige kathrin passig, einer der wenigen menschen, bei denen ich mich nie schäme sie hemungslos anzuschleimen, unter anderem, weil ich sie und ihre texte seit ihren ersten taz-kolumnen hemmungslos bewundere, susanne frömel, die man allein wegen dieses textes bewundern könnte, meine sympathie aber mit ihrer offenen, unprätentiösen art gewann — und weil sie das wort „fatzke“ benutzte um eine bestimmte art journalisten zu beschreiben, die mir auch wohlbekannt sind, markus albers, der mir zuerst ein bisschen wie ein fatzke vorkam, das wort „portfolio diversifikation“ beinahe ironiefrei benutzte, aber dann doch meinen ersten eindruck wegwischen konnte, als er sich ein bisschen warm geredet hatte und sebastian esser, dem das nicht gelang.

susanne frömmel traf dann auch einen vorformulierten nagel in meinem kopf, als sie einleitend sagte: „ich dachte ihr wärt jünger.“ sie meinte das natürlich in dem sinne, dass sie im vorfeld dachte, „vielleicht den jungen Dingern“ helfen zu können, aber offensichtlich vor lauter alten hasen stand, denen sie jetzt gar nicht so viel neues erzählen könnte, wenn sie aus ihrem erfahrungsschatz plauderte. mir fiel dabei auf, dass ich diesen gedanken vorher auch hatte, ihn aber im geiste anders formuliert hatte: ich kam mir vor, als ich da in diesem seminarraum sass, wie bei einer lehrer-fortbildung. mit lehrern bin ich aufgewachsen, sowohl in der schule, als auch zuhause und bei den freunden meiner eltern. wenn meine eltern gäste hatten oder wir bei freunden zu besuch weilten, waren mein vater und ich nicht selten die einzigen, die keine lehrer waren. und: lehrer kamen mir immer alt vor, selbst die paar jungen die ich in meiner schullaufbahn kennenlernte.

im weiteren verlauf wurde dann vor allem übers geld geredet — erstaunlich offen, aber auch erstaunlich frustriert. so sagte susanne frömel, dass sie mittlerweile nicht mehr für die zeit schreiben würde, weil die „unwahrscheinlich wenig“ zahlen würde. für tageszeitungen zu schreiben, das schien zumindest der konsens aller auf dem kongress anwesenden zu sein, lohne sich überhaupt nicht mehr. kathrin passig meinte zwar, dass sie sich schon immer freue, wenn es mal für einen text mehr als bei der taz gäbe, und dass sie eine ganze weile brauchte, um herauszufinden, dass manche zeitungen mehr als zwanzigmal so viel wie die taz zahlen. als markus albers sagte, dass ihm, wenn er im monat zwei grössere und ein paar kleinere geschichten schröbe, die zweieinhalb tausend euro die er bis dahin verdient hätte, nicht ausreichten, merkte eine journalistin im publikum erstaunt an, dass sie mit den 1400 euro netto die sie im monat bei der taz als festangestellte verdient hätte, eigentlich ganz zufrieden gewesen sei.

geld, skepsis, angst und frust wären statt des offiziellen mottos „mach’s dir selbst“ auch ein gutes leitthema für den freischreiber-kongress gewesen. die grossen themen wurden zwar alle angeschnitten, aber alle, wie christoph kappes richtig anmerkte, fast ausschliesslich aus der einzelautoren-perspektive. das schien teilweise sehr wehleidig.

der zweite workshop, der übrigens mit zweieinhalb stunden, ebenso wie der erste, viel zu lang angesetzt war, schloss beinahe übergangslos an den ersten an: „Spaß kann man nicht essen: Geld und Geschäftsmodelle“. eingeladen waren drei journalisten die im internet viel spass haben und wenig geld verdienen und peter kabel, der irgendwann mal im internet viel geld verdient hat und mit journalismus nicht viel am hut hat.

peter kabel, matthias spielkamp, philip banse, jens weinreich, brigitte baetz

auf dem podium sassen neben peter kabel, den eigentümlicherweise fast alle anwesenden duzten, der enorm eloquente matthias spielkamp (zwei t, ein h), der mit einem kurzen einleitenden vortrag vergeblich versuchte das thema zu erden, philip banse (ein l), dessen diskussions- und kleidungsstil mich an kommissar columbo erinnerte und der nimmermüde jens weinreich, dessen seltene mischung aus realismus, abgeklärtheit und experimentierfreude ich sehr schätze. peter kabel war auch ein bisschen abgeklärt und sogar ein bisschen selbstkritisch, als er seine insolvenz 2001, nach einem etwas überhastetem und zu schnellem wachstum wie folgt beschrieb: „als das wetter umschlug, standen wir plötzlich im regen und wurden nass.“ dass er persönlich recht trocken, wenn auch mit einem haufen journalisten an den fersen, aus dem wetterumschwung hervorging, vergass er zu erwähnen.

dafür haute er gleich zur eröffnung kräftig auf die kacke. nicht den journalismus, sondern gleich das ganze mediengeschäft, erklärte er für erledigt. genauso würde es, genau betrachtet, keine werbung mehr geben, da die firmen nicht mehr werben wollten, sondern nur noch verkaufen. er betonte zwar, dass er das auch bedauere, das aber nunmal die „realität“ sei. seine argumentationslinie lag nah an der von marcel weiss, der ebenfalls behauptet, dass „viele Produkte oder handelbare Güter […] in ihrer Verfügbarkeit von Knappheit zu Überfluss“ übergehen. kabel meinte, dass dem journalismus, bzw. der ganzen medienbranche dieser überfluss von nahezu kostenlos zu distributierenden und verfügbaren gütern, den boden unter den füssen wegziehen werde — so wie das mit der musikbranche bereits der fall sei: „von journalismus leben, halte ich nicht für machbar.“

einerseits würde ich kabel zustimmen. dass die alten geschäftsmodelle wegbrechen hat ja bereits die verlagsbranche selbst gemerkt, das problem ist, dass die neuen geschäftsmodelle noch nicht ausgereift, bzw. entwickelt worden sind. teilweise ist die musikbranche da schon weiter, künstler scheinen im fileshring-zeitalter mehr als je zuvor zu verdienen. wer leidet und die stärksten finanziellen einbussen vermeldet, sind die plattenlabel. insofern hinkte peter kabels vergleich ein wenig.

den anwesenden journalisten gefielen die worte von peter kabel nicht so doll, was aber auch an der teilweise recht aggressiven form des vortrags gelegen haben könnte. denn dass dem journalismus, oder wie kabel sagt, den medien die geschäftsmodelle wegbrechen, stritt niemand ab. dabei lässt sich der konflikt, der mit relativ viel geschrei ausgetragen wurde, auf einen satz reduzieren: die journalisten finden es scheisse, dass die althergebrachten geschäftsmodelle wegbrechen, kabel beschränkte sich darauf es festzustellen und mit etwas zu wurstigen vergleichen zu belegen.

jens weinreich meinte in den worten kabels nichts substanziell neues erkennen zu können, schliesslich habe er seine festanstellung genau aus dem grund gekündigt: er sah keine zukunft mehr in seinem job, bzw. ahnte, dass der verlag ihn ohnehin in ein paar jahren vor die tür setzen würde (setzen würde müsse). also warum nicht freiwillig abspringen und die eigenen fähigkeiten schulen, sich einen namen machen und einfach machen. daniel fiene fasste die workshop-zusammenfassung von tom schimmeck von jens weinreichs worten treffend zusammen: Jens Weinreich: ich mache meinen Job und gucke - das ist der einzige weg.

was mir in den diskussionen ein bisschen fehlte war das ausloten der chancen. die feststellung und das gemeinsame begrübeln und beklagen einer krise, hat meiner meinung auf einem zukunftskongress nicht viel zu suchen. auch peter kabels begeisterung über algorithmische oder soziale aggregatoren oder flipboard, bzw. sein appell an die anwesenden nicht zu klagen, sondern etwas zu unternehmen, trat meiner meinung nach zu kurz.

wo war die analyse von erfolgsstorys wie der brandeins, die meiner meinung nach, ähnlich wie die taz, eine art frühzeitiges spendenmodell über abos etabliert hat, was ganz ähnlich wie flattr funktioniert. wie schaffe ich es entweder meine fans oder treuen leser, die mein produkt schätzen oder gar lieben zu mobilisieren, damit sie mich dauerhaft unterstützen — oder wie schaffe ich es, die hürden für solcherlei unterstützung künftig zu senken? aus persönlicher erfahrung weiss ich, dass mein budget für den medienkosum konstant, bzw. leicht steigend ist. ich gehe zwar weniger ins kino, kaufe aber mehr DVDs. ich kaufe vielleicht nicht mehr so viele tageszeitungen wie bisher, verflattere dafür aber 20-40 euro im monat. ich nutze kostenlose angebote im netz, stecke aber auch hunderte von euros und dollars in bezahlangebote. und es gibt durchaus studien die zeigen, dass es die angebliche kostenlos-kultur in dieser form gar nicht gibt. was wir beobachten, sind ständige umschichtungen. und um diese umschichtungsprozesse zu verstehen oder zu beinflussen, müssten wir mehr analysieren, experiemtieren und machen.

oder wie es der steuerberater meiner eltern mal gesagt hat: „das geld liegt auf der strasse. man muss es nur aufheben.“ das problem dabei: man muss auf die strasse und die strasse ganz genau beobachten.

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und sonst?

  • geo „bürstet“ die texte aller autoren, damit sie einen geo-tonfall bekommen.
  • Why journalists deserve low pay von robert g. picard (ich glaube das matthias spielkamp den text in der diskussion empfahl).
  • die freischreiber nannten die podiumsteilnehmer im program „Diskutanten“. ob alice schwarzer auch gerne diskuonkel gesehen hätte?
  • banken sind so ne art geld-hoster.
  • könnten firmen wie flattr probleme bekommen, weil sie, ähnlich wie banken, unmengen an vorgeschossenem geld für ihr kunden betreuen und deshalb eigentlich eine bankenlizenz benötigen? (tnx @pickihh)
  • da ist was dran.

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[nachtrag 19.09.2010]
matthias spielkamp fasst auch nochmal nach und erwähnt noch ein paar aspekte, die ich ausgelassen habe.

[nachtrag 20.09.2010]
michael brake fasste den freischreiber-kongress für die taz zusammen. wahrscheinlich hat er gar nicht mal so viel geld dafür bekommen. (via)