kraft durch scheissen

felix schwenzel

mei­nen zi­vil­dienst, ich habe das schon öf­ter mal er­wähnt, habe ich in ei­ner ein­rich­tung ver­rich­tet, in der er­wach­se­ne be­hin­der­te leb­ten. eine von an­tro­po­so­phen ge­führ­te „le­bens­ge­mein­schaft“. ne­ben mei­ner täg­li­chen ar­beit in der holz­werk­statt war ich ei­ner haus­ge­mein­schaft an­ge­schlos­sen, in der ich ein zim­mer­chen hat­te, ge­füt­tert wur­de und mor­gens und abends ein paar pfle­ge­auf­ga­ben über­nahm. zwei drei män­ner brauch­ten mor­gens und abends et­was hil­fe beim wa­schen und zäh­ne­put­zen. die­se ar­beit teil­te ich mir mit mei­nem „haus­va­ter“. et­was in­ten­si­ve­re pfle­ge brauch­te wal­de­mar, ein etwa 50 jäh­ri­ger ziem­lich at­trak­ti­ver mon­go­lo­ider mann, lei­der durch das für ei­nen mon­go­li­den ziem­lich re­spek­ta­ble al­ter be­reits et­was ver­wirrt.

das mit der ar­beit ging nicht mehr so gut, die ge­schick­lich­keit und kon­zen­tra­ti­ons­fä­hig­keit wa­ren nicht mehr das was sie mal wa­ren, bei es­sen rutsch­te im­mer et­was vom tel­ler, er brauch­te bei vie­len all­täg­li­chen din­gen ein biss­chen hil­fe. auch auf dem klo, liess man ihn dort al­lei­ne, ging un­ter um­stän­den eine rol­le klo­pa­pier drauf, ohne dass das ein stück pa­pier schmut­zig wur­de, da­für war da­nach das klo ver­stopft. ein­ge­schlif­fe­ne din­ge wie zur mor­gens zur ar­beit ge­hen oder das an und aus­zie­hen gin­gen aber noch (as­ser schlei­fe bin­den).

mon­go­lo­ide, sag­te mei­ne haus­mut­ter, sei­en ein ei­ge­nes „völk­chen“. ein biss­chen hat­te sie da­mit recht. fast alle sind sehr freund­lich, manch­mal so­gar über­mäs­sig freund­lich, lä­cheln viel und sind char­mant. wal­de­mar war ein aus­ge­spro­che­ner frau­en­freund. wenn er eine frem­de frau sah, strahl­te er sie an und be­schmiss sie mit kom­pli­men­ten: „schöööö­ne frau!“. dann seufz­te er und ver­such­te mit sei­nen bli­cken zu flir­ten. mich hielt er da­mals auch manch­mal für eine „schööö­ne frau!“, sein au­gen­licht war trotz bril­le nicht mehr das bes­te und ich trug da­mals die haa­re lang. ich war ja schliess­lich zivi. mon­go­lo­ide sind nicht nur meist un­glaub­lich freund­lich, oft auch sehr touchy, sie su­chen den kör­per­kon­takt und ver­ge­wis­sern sich ge­gen­sei­ti­ger sym­pa­thie durch kör­per­kon­takt. auch zu die­ser re­gel gab es aus­nah­men, im haus ge­gen­über leb­te ei­ner der im­mer sehr ernst, fast grim­mig guck­te. er nahm al­les sehr ernst, lä­chel­te nie und war sehr pflicht­be­wusst, bei der ar­beit wie in sei­ner frei­zeit, wäh­rend der er, wie man mir sag­te, pas­sa­gen aus der bi­bel ab­schrieb. auch ach­te­te er sehr auf sei­ne zun­ge, die fast nie zu se­hen war. mon­go­li­de sind nicht be­son­ders in­tel­li­gent, aber aus­nahms­los schlau. sehr schlau. sie ha­ben ein sehr aus­ge­präg­tes sen­so­ri­um für stim­mungs­schwan­kun­gen ih­rer um­ge­bung und sind tol­le trös­ter, also sehr em­pa­thisch. man­che sind sehr red­se­lig und elo­quent, man­che stumm, man­che plap­pern stän­dig vor sich hin. alle die re­den kön­nen ha­ben ein aus­ge­präg­tes na­mens­ge­däch­nis und ma­chen re­gen ge­brauch von ih­rer na­mens­kennt­nis, das ha­ben sie ge­mein mit so­zi­al­ar­bei­tern und ge­coach­ten po­li­ti­kern („das lie­be frau mer­kel, um, äh, chris­ti­an­sen ist mei­ne, um, äh, mei­nung“). ei­ner im dorf lief im­mer rück­wärts, ei­ner lief erst, wenn man ihn an­schob. also durch­aus ein „völk­chen“, aber eins mit aus­ge­präg­tem in­di­vi­dua­lis­mus.

im lau­fe mei­nes zi­vil­diens­tes vert­schlech­ter­te sich wal­de­mars zu­stand. er ent­wi­ckel­te sym­pto­me von par­kin­son, sei­ne hän­de zit­ter­ten und ver­krampf­ten sich, die kon­trol­le sei­ner bla­se liess nach, er fing an angst vor hö­hen zu ent­wi­ckeln und an al­lem rum­zu­zup­fen was er in die hän­de be­kam. das zup­fen wur­de in der we­be­rei zu sei­ner haupt­be­schäf­ti­gung, dort zupf­te er wol­le. lei­der konn­te er da­mit in sei­ner frei­zeit nicht mehr so recht auf­hö­ren. er fing an an sei­nen mit­be­woh­nern zu zup­fen, zer­zupf­te sei­ne pull­over und die win­deln die wir ihm mitt­ler­wei­le nachts an­le­gen muss­ten.

al­les halb so schlimm, denn er hat­te noch ein paar le­bens­freu­den, das es­sen be­rei­te­te ihm nach wie vor gros­ses ver­gnü­gen, er lieb­te mu­sik, sei­ne ar­beit und mich moch­te auch im­mer mehr, je schlech­ter sei­ne au­gen wur­den („schö­ne frau“).

ire­nd­wann ka­men aber ernst­haf­te kör­per­li­che pro­ble­me hin­zu, ir­gend­wel­che ma­gen-darm-ge­schich­ten, die eine klei­ne ope­ra­ti­on in­di­zier­ten. bei ei­ner der vor­un­ter­su­chun­genh war ich da­bei, wal­de­mar soll­te en­do­sko­pisch un­ter­sucht wer­den. die schwes­tern woll­ten ihm ei­nen auf­lauf ein­lauf ma­chen, und drück­ten ihm 4 von die­sen vor­ge­fer­tig­ten beu­teln mit salz­lö­sung in den end­darm (eine da­von reich­te an­geb­lich in der re­gel). kei­ner der beu­tel­in­hal­te er­blick­te in den nächs­ten 4 stun­den wie­der das ta­ges­licht, wal­de­mar hielt zu un­ser al­ler er­stau­nen an sich. der arzt muss­te im trü­ben en­do­sko­pie­ren.

von der spä­te­ren ope­ra­ti­on er­hol­te sich wal­de­mar im prin­zip ganz gut, es schien so­gar wie­der ein biss­chen auf­wärts zu ge­hen. die pha­se der bes­se­rung hielt al­ler­dings nicht lan­ge. lang­sam aber si­cher beug­te sich wal­de­mars kör­per, er ver­krampf­te im­mer mehr, al­ter­te ra­pi­de. er muss­te bald wie­der ins kran­ken­haus. ir­gend­wann lag er auf der in­ten­siv­sta­ti­on, wir er­war­te­ten dass er ster­ben wür­de und rie­fen sei­ne letz­ten ver­wand­ten, sei­ne schwes­ter und ih­ren mann zu ihm. ich kann mich noch gut an die ma­schi­ne mit dem ping er­in­nern die sei­ne herz­fre­quenz an­zeig­te. er hat­te sehr un­re­gel­mäs­si­gen herz­schlag, die kur­ven wa­ren bei­na­he chao­tisch und durch­ein­an­der. wal­de­mar däm­mer­te vor sich hin, re­agier­te nicht auf an­spra­che. wir hol­ten ei­nen pries­ter, der ihm die letz­te ölung ge­ben soll­te. ich sah al­ler­dings, dass das was der pries­ter mach­te, wal­de­mar of­fen­bar sehr un­an­ge­nehm war. un­ter der hand des pries­ters reg­te sich wal­de­mar erst­mals wie­der, ich konn­te se­hen wie er sich der ver­an­stal­tung ent­zie­hen woll­te, ihm fehl­te le­dig­lich die kraft dazu. er stemm­te sich ge­gen den tod. er stemm­te sich so hef­tig da­ge­gen, dass er als der pries­ter fer­tig war erst­mal kräf­tig in bett schiss. dass das der wen­de­punkt war, er­kann­te ich dar­an, dass wal­de­mars au­gen strahl­ten als eine kran­ken­schwes­ter zum sau­ber­ma­chen rein­kam. hät­te er die kraft ge­habt, er hät­te ge­sagt: „ohh, schööö­ne frau.“ so hat er es halt nur mit den au­gen ge­sagt. nach dem schiss schlug das herz wie­der re­gel­mäs­sig, wal­de­mar war dem tod noch­ein­mal von der schip­pe ge­sprun­gen und leb­te noch ein paar jah­re nach­dem ich mei­nen zi­vil­dienst be­en­det hat­te.

manch­mal den­ke ich, dass es schön ge­we­sen wäre, ihn ein biss­chen frü­her ken­nen­ge­lernt zu ha­ben. und — vor ein paar wo­chen hat das völk­chen wie­der nach­wuchs be­kom­men, mein freund kris­tof und sei­ne frau ha­ben ei­nen sohn mit down-syn­drom zur welt ge­bracht.