Der Firnis der Zivilisation ist extrem dünn. Mir fiel das zum ersten mal 1992 auf, nach den gewalttätigen Unruhen in Los Angeles. Die Unruhen brachen aus, nachdem Polizisten den Afroamerikaner Rodney King bei einer Verkehrskontrolle schwer misshandelten und hielten mehrere Tage an. Am Ende gab es über 50 Tote und mehrere tausend Verletze zu beklagen. Mir wurde klar, dass unsere politische und wirtschaftliche Ordnung keinesfalls so stabil sind, wie ich mir das bis dahin gedacht hatte. Mich haben die Unruhen von Los Angeles politisch sensibilisiert.
Die Corona-Krise dürfte ein ähnliches Potenzial haben. Sie könnte uns dafür sensibilisieren, dass nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse auf wackeligen Füssen stehen, wenn wir sie nicht aktiv stützen, sondern dass wir, trotz enormen Fortschritten in Wissenschaft und Technik, immer noch ein verletzlicher Teil der Natur sind. Corona erinnert uns daran, dass die Kraft der Natur alles andere als gebändigt haben, wir sind ihr, wie die Menschen vor Jahrhunderten, immer noch grösstenteils ausgeliefert.
Vor Corona hatte ich immer wieder das Gefühl, insbesondere bei Diskussionen um den Klimawandel, dass viele Menschen glaubten, das wir den Klimawandel, die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, schon irgendwie mit Technologie in den Griff zu bekommen. Corona hat uns gelehrt, dass wir allein mit Wunschdenken, Technikgläubigkeit oder konzentriertem Optimismus den Fortbestand unserer Zivilisation nicht sichern werden.
Corona hat aber auch gezeigt, dass wir angesichts akuter Gefahrenlagen als Gesellschaft durchaus zu Verzicht und vernunftbasiertem Handeln fähig sind. Marktliberale haben es für lange Zeit als Ding der Unmöglichkeit angesehen, dass Menschen dazu bereit wären Einschränkungen ihrer Lebensqualität hinzunehmen um andere zu schützen oder globale Gefahren abzuwehren.
Corona öffnet die Chance uns daran zu erinnern, dass die Zukunft prinzipiell nicht planbar ist und dass der Markt allein weder die ökonomischen oder gesellschaftlichen Folgen eines Virus abwehren, noch den Klimawandel stoppen kann. Es gibt keine Alternative zum gemeinschaftlichen Handeln, zur Vernunft, zu Solidarität, also zum Staat und zur Zivilgesellschaft.
Der weltweite Vernunftausbruch, den wir zur Zeit erleben, sinkende Luftverpestung, weil viele aufs Autofahren und Fliegen verzichten, die Erkenntnis, dass man auch in Datennetzen Geschäfts- und Sozialkontakte pflegen und aufbauen kann, die Popularisierung des bargeldlosen Bezahlen und des Gesichtsschleiers, könnte aber auch ein jähes Ende erleben, wenn wir nicht auf der Hut sind.
1973 zum Beispiel, als Deutschland in einer Wirtschaftskrise steckte und der Jom-Kippur-Krieg denn Ölpreis explodieren liess, verordnete die Bundesregierung deutschlandweit Fahrverbote und ein Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen.
Offenbar brachte das Sonntagsfahrverbot eine Ersparnis beim Benzinverbrauch von 7 bis 12 Prozent. Viele sparten Strom, drosselten die Heizung und hielten das Tempolimit ein. Aber diese ökonomische und ökologische Sensibilität hielt nicht lange an. Schon wenige Wochen später, als der Krieg im Nahen Osten vorbei war, wurden die Fahrverbote und Tempolimits in Deutschland wieder aufgehoben, als sei nichts gewesen. Im europäischen Ausland, um Deutschland herum, blieben die Tempolimits übrigens bestehen, in Deutschland wagte man sich seither selbst bei weiteren Öl- und Ökokrisen nicht mehr ans Tempolimit heran.
Aber vielleicht bleibt ja doch etwas vom Corona-Vernunft- und Solidaritätsausbruch hängen. Zum Beispiel:
- die Erkenntnis, dass Verzicht nicht nur Verlust bedeutet, dass tiefgreifende Veränderungen am Lebenswandel durchaus von einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit getragen werden können — wenn die Gründe nachvollziehbar und vernünftig sind.
- dass das Internet, ordentlicher Zugang zum Netz, ein unveräußerliches Grundrecht ist, dass gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht und nicht einfach gesperrt oder wegen Infrastrukturengpässen verwehrt oder kaputtgedrosselt werden darf.
- die Erkenntnis das Homeoffice, oder wie man früher, zu Zeiten der Ölkrise, sagte, Telearbeit, nicht nur ein Incentive für Mitarbeiter ist, sondern dass die Möglichkeit seine Arbeitnehmer dezentral und ortsunabhängig einzusetzen ein handfester Wettbewerbsvorteil für Unternehmen ist.
Was allerdings mit ziemlicher Sicherheit bleiben wird, bei allen künftigen Krisen: die Angst ums Klopapier.
diese kolumne erschien zuerst in der t3n 06/2020 und auf t3n.de.