Bei Raab konnte man beobachten, wie ein Moderator aussieht, wenn er nicht immer nur zwanghaft versucht, seriös zu wirken. Während die anderen drei - Peter Kloeppel, Anne Will und Maybrit Illner - ihre Ernsthaftigkeit durch gefurchte Stirn und körperliche Reglosigkeit ausdrückten, erlaubte sich Raab, sich zu bewegen und sogar persönliches Interesse zu zeigen.
warum hansen allerdings diesen tweet den „heiko blume“ von stefan niggemeier kopiert hat in seinen artikel eingebettet hat, ist mit ein rätsel.
der gefahrgutbeauftragte fragt wie es anne will in 18 minuten von adlershof nach schöneberg geschafft haben könnte. teleportation? öffentlich rechtlicher hubschrauber?
ich habe in adlershof die mytaxi app befragt, was eine taxifahrt von dort in den wedding kostet. 45 euro war die antwort. ich bin dann sbahn gefahren, aber die s-bahn-reise hat in etwa so lange gedauert wie die reise vom hauptbahnhof berlin zum hauptbahnhof hamburg im ICE.
och nee, warum veröffentlicht holm friebe seinen nachruf auf wolfgang herrndorf denn gerade in der welt? sicher nicht wegen der tollen keyword-werbe-icons? trotzdem ein sehr toller nachruf.
vor ein paar wochen habe ich mich zum tv-duell zischen angela merkel und peer steinbrück akkreditiert. weils ging. ich war ein ein bisschen aufgeregt ob ich dann wirklich eingelassen werde, weil es in der einladungsmail hiess:
Bitte bringen Sie diese ausgedruckte Akkreditierungsbestätigung und die angegebene Legitimation (Presseausweis oder Akkreditiv des Arbeitgebers bzw. auftraggebenden Mediums) mit.
da ich mich mit wirres.net als auftraggeber angemeldet habe, habe ich mir entsprechend auch eine akkreditierung ausgestellt:
Sehr geehrte Damen und Herren,
Felix Schwenzel berichtet für das Online Magazin „wirres.net“ von der Bundestagswahl 2013. Bitte ermöglichen Sie ihm den Zugang zum „TV-Duell 2013“ am 1. September.
Mit freundlichen Grüße
Felix Schwenzel
Chefredakteur und Herausgeber wirres.net
als backup hatte ich aber noch eine akkreditierung einer „echten“ redaktion dabei. und? die haben weder auf den personalausweis, noch auf das „Akkreditiv“ geguckt. ich habe einfach so mein kärtchen bekommen.
drinnen ein grosser fernsehstudio-artiger, bescheurert beleuchteter raum, in dem typische fernsehstimmung herrscht. wichtig rumstehen und warten. dabei etwas essen und trinken, gelegentlich telefonieren oder in eine kamera sprechen. die akkustik ist allerdings sehr angenehm, weil überall stoff rumhängt und teppich ausliegt.
neben den journalisten laufen hier sehr viele sicherheitsleute rum oder leute die eben aussehen wie journalisten oder sicherheitsleute. das kann man ja nicht immer so genau unterscheiden. die kleinen menschen die hier rumlaufen sind politiker. ursula von der leyen lief eben an mir vorbei als ich auf einem höckerchen sass und wir konnten uns dann einen kleinen augenblick in die augen sehen. so klein ist die.
peter klöppel trägt übrigens hochwasserhosen. michel friedman auch. muss also ein trend sein.
ich selbst fühle mich etwas underdressed mit meinem rötlichen cordjacket und dem schwarzen t-shirt mit leichten salzrändern vom 11 kilometer-marsch nach adlershof. ja, ich bin vom ostkreuz ins tv-studio gelaufen. was deshalb bemerkenswert ist, weil die dichte der NPD-plakate richtig adlershof stark zunimmt und dann am s-bahnhof adlershof schlagartig auf null zurückgeht. dafür waren dann plötzlich überall polizeiautos.
laut ulrich deppendorfs telepromter steigt die spannung im pressezentrum minütlich:
bei pro7 herrscht allerdings ziemliche ruhe:
spannend fand ich, dass ronald pofalla vor dem duell eine currywurst bestellte und ass.
als es dann losging, fand ich dass steinbrück seine eröffnung etwas besser auswendig gelernt hatte, als merkel. offenbar nicht nur ich.
aber steinbrück brachte die auswendig gelernten passagen nicht nur einen ticken glaubwürdiger rüber als merkel, ich fand besonders auffällig, dass er sich nicht wie merkel von den zwischenfragen aus dem tritt bringen liess. steinbrück fasste die ganze veranstaltung viel mehr als ein gespräch auf als merkel, bei der man das gefühl hatte, dass sie nur ihre talking points runterspulen wollte. diese talking points kamen leider zum grossen teil nicht nur wie aufgesagt und nicht abgeholt rüber, sondern waren, wie von merkel gewohnt, leider oft auch völlig verworthülst. mich wunderte, dass sie nicht irgendwann sagte, dass sich zukunft wieder lohnen müsse und frische luft gesund sei. nur ganz selten liess sie sich von den schienen heben und zu aussagen bringen, die so möglicherweise nicht geplant waren: ja das sei schon möglich, dass emails die den deutschen boden verlassen mitgelesen werden könnten, wobei das natürlich auch zu prüfen sei. und zu diskutieren. und nee, autobahnmaut für PKWs geht gar nicht.
merkel merkte man deutlich an, dass ihr das duell keinen spass machte. steinbrück schon. ich hatte das gefühl, dass er sich über manche fragen freute und meistens sogar über unterbrechungen und nachfragen. einmal sagte er may-britt illner sogar, dass er ihr gerne zuhöre — und das war nur halb ironisch gemeint. auch überraschend: steinbrück beantwortete manche fragen mit einem klaren ja oder nein. meistens schob er dann zwar noch ne erklärung hinterher, aber auch das meistens so knapp und auf den punkt, dass merkel irgendwann 10 minuten vorsprung bei der redezeit hatte.
merkel ging aber meiner meinung nach nicht leer aus. steinbrück wirkte zwar über weite strecken so viel kompetenter, besser vorbereitet und tiefer in der materie, dass ich mich dazu hinreissen liess ihn staatsmännisch zu nennen, aber merkel schaffte es irgendwie weniger akademisch und knuffiger zu wirken. also ein bisschen wie ein bauer mit dicken kartoffeln: kann sich zwar nicht so doll ausdrücken, ist nicht so irre helle, aber hats irgendwie schon drauf, mit den kartoffeln.
staatsmännisch versuchte auch peter klöppel zu wirken. und zwar sehr bemüht. so sehr, dass er mindestens einmal eine frage verdrehte und ständig an seinem füller rumfummelte. auch die etwas zu joviale art von may-britt illner verfing bei mir nicht. ich war heute abend anne will und stefan raab fanboy. beide sprachen und fragten floskellos, bissig, direkt und ein bisschen unverschämt, beide hakten so nach, dass beide kandidaten jedesmal ein bisschen baff waren und bis zu 3 zehntel-sekunden brauchten, bis sie sich wieder gefangen hatten. merkel brauchte bei manchen zwischenfragen 3-4 sekunden, bis sie sich wieder auf ihr floskel-gleis gehoben hatte. raab brachte nicht nur frische luft in die moderatoren-runde, sondern inspirierte offenbar auch anne will zu mehr aggressivität. stefan raab hätte ich jetzt gerne öfter bei solchen veranstaltungen dabei.
nach dem duell ass ronald pofalla übrigens wieder eine currywurst. wie vor dem duell. und spielte an seinem handy rum. irgendwann rauschte die kanzlerin in einem cordon von 20 personenschützern vorbei. merkel sah pofalla nicht, pofalla merkel nicht und ich sah merkel zuerst auch nicht. erst als sie vorbei war, sah man ihr schön gemachtes haar bewegungslos auf ihrem kopf entlanglaufen.
peter altmaier wollte nach der veranstaltung eigentlich vor allem bier trinken, sagte bei interview-anfragen aber nicht nein. ich habe bei zwei interviews kurz zugehört und seine einschätzung war beide mal wie vorher einstudiert und natürlich auch wortgleich. ich fand ihn aber trotzdem knuffig.
erstaunlich wie viele regierungspolitiker, minister und CDU oberchecker im pressezentrum waren. von der SPD waren soweit ich das erkennen konnte nur andrea nahles und hubertus heil da. der verstand sich ganz prima mit klaas heufer-umlauf. klaas heufer-umlauf hatte übrigens politiker-schuhe an. politiker-schuhe sind immer pikobello geputzt oder brandneu. seit ich vor 15 jahren mal lothar späth auf einer bierbank gesehen habe und dabei seine perfekt gepflegten schuhe sah, achte ich bei politikern immer auf die schuhe und bin fasziniert, wie einheitlich perfekt die schuhe immer sind. ich habe bisher nur einen politiker gesehen, der ungepflegte schuhe hatte: jörg tauss.
markus beckedahl fasst das duell wie folgt zusammen: „Acht Minuten NSA-Skandal im TV-Duell“ auch hier bin ich stefan raab übrigens (wahrscheinlich zu unrecht) dankbar. just in dem moment wo ich fürchtete (und twitterte), dass NSA und netzpolitik gar nicht mehr drankommen, fing raab an genau danach zu fragen.
roland nelles meint auf spiegel.de, „das war 0:0“, was ich anders sehe. könnte ich steinbrück direkt wählen und müsste nicht die verkackte wankelmütige SPD wählen, er hätte mich heute überzeugt. wenn jetzt auch noch der unwahrscheinliche fall eintreten würde, dass er sich plötzlich für bürgerrechte auch im internet und nicht nur auf der strasse einsetzen würde und klar stellung gegen die vorratsdatenspeicherung oder fluggastdatenübermittlung und für ein modernes urheberrecht beziehen würde, könnte er mich vielleicht noch überzeugen. aber dafür sind 21 tage wohl zu knapp.
stefan schulz fasst einen vortrag von julius van de laar zusammen. van de laar hat obama dabei geholfen die datenschutzgesetze auszuhebeln maximal legal auszuschöpfen und stefan schulz arbeitet derzeit noch für alle lesbar an seinen polemischen fähigkeiten. der wille ist erkennbar.
portrait des boulevard-journalisten günter stampf von stephan lebert und daniel müller:
Günter Stampf war der Wunderknabe des Boulevardjournalismus, ein Star der Branche. Aber irgendwas ist furchtbar schiefgelaufen. Vor einem Jahr brachte er sich um
der kunsttheoretiker michael lingner schreib 2006 diesen kritischen artikel über den artist pension trust (APT):
Statt in den Genuss vermeintlich sozialer Leistungen zu kommen, werden Künstler und Kunst in einer bisher ungeahnten Weise zum Spielball eines rein gewinnorientierten, professionellen Spekulantentums.
der artikel wurde in meinen timelines nach oben gespült, weil der APT jetzt versucht, die hälfte seines kunstbestands auf den markt zu werfen. warum das irgendwen interessieren sollte? lingner warnt, dass die kunstszene nicht mehr der kunst, der wahrheit, dem diskurs oder „freimut“ fröhnt, sondern nur noch dem marktwert, dem gewinnstreben:
Was dem Investor, Künstler oder Kurator als rein finanzielle Privatangelegenheit erscheinen mag, kann für den gesamten öffentlichen Kunstdiskurs und -betrieb fatale Folgen haben. Denn die ohnehin bestehende Neigung zur Unterdrückung freimütiger Wertungen wächst auch im Betriebssystem Kunst weiter, wenn befürchtet werden muss, dass sich Kritik generell als geschäftsschädigend auswirkt oder so aufgefasst werden kann. Entscheidungen über künstlerische Projekte und Karrieren fallen dann unter dem beschränkten Gesichtspunkt, was strategisch für die eigene Positionierung und die der anderen Trusties am günstigsten erscheint.
mit anderen worten: der kunst droht die samwerisierung¹, die ferrarisierung und totale trivialisierung.
1) samwerisierung
in ein geschäft, das lukrativ erscheint, einzusteigen und zu versuchen, schnell, aber nicht unbedingt nachhaltig, zu wachsen, viel aufmerksamkeit und marktanteile zu erreichen und dann, auf dem höhepunkt, einen gutbezahlten exit hinzulegen, also auszusteigen bevor risse in der fassade die leere hinter den kulissen offenlegt.
mit anderen worten, samwerisierung ist eine variante des guten alten rein-raus-spiels. gewinner ist am ende der mit der dicksten hose.
ich finde das ja super, dass konzerne wie shell oder die formel1 videos auf youtube mit fadenscheinigen urheberrechtansprüchen oder anderen schmutzigen tricks wegzensieren können. damit wird nämlich jedesmal wunderbar sichtbar, welche haltung diese konzerne und die menschen die an ihrer spitze stehen haben. sie verachten freie meinungsäusserung und glauben tatsächlich dass sie mit hilfe ihrer anwälte öffentlichkeitsarbeit betreiben können.
lustig finde ich die SPD-kandidatenbilder im gegenteil zu denen der CDU nicht. wenn aber man etwas wartet, bis unten alle bilder geladen sind, haben die SPD-kandidaten zur bundestagswahl eine leicht hypnotische wirkung. und wenn man sich konzentriert, sieht man steinmeier bei jedem durchlauf (quelle):
joshua bearman (der die „argo“-story für wired schrieb, die später in einen leider furchtbar langweiligen film verfilmt wurde) hat die geschichte von ein paar hippis aufgeschrieben, die in den 60er jahren in coronado (eine insel vor san diego in kalifornien) ein haschish-schmuggel-imperium aufbauten. breaking bad in den sechzigern, sozusagen. die geschichte steht in der juli-ausgabe der GQ ist episch lang (ich habe erst ein drittel davon gelesen) und noch nicht kostenlos im netz zu lesen.
im september veröffentlicht die GQ die geschichte auch im netz, bis dahin kann man die geschichte hier kaufen oder als amazon single für €2,68 (amazon werbelink). ich finde die knapp drei euro lohnen sich.
die brauseboys haben auch die direktkandidaten von berlin-mitte zu gast. am 29.08.2013 um 20:30 uhr mit klaus lederer (die linke) und therese lehnen (piraten), am 05.09.2013 um 20:30 uhr mit hartmut bade (FDP) und philipp lengsfeld (CDU) und dem grossartgen manfred maurenbrecher und am 12.09.2013 um 20:30 uhr dann rot-grün mit eva högl und özcan mutlu. /via heiko werning
wenn ich richtig gezählt habe, sieht man hier 32 CDU-kandidaten die einen stift in der hand halten, einen der ein iphone in der hand hält, drei die so tun als ob sie ein ipad benutzen und einen der an seinem finger riecht.
heute abend habe ich mir im sprengelhaus eine veranstaltung angesehen, in der sechs direktkandidatinnen für den bezirk mitte gelegenheit hatten sich ihren wählerinnen vorzustellen. anwesend waren
die drei ersten wurden auch mit ihrem titel aufgelistet, da sie aber auf ihren wahlplakaten alle drei auf ihren titel verzichten, verzichte ich auch. insgesamt waren in dem relativ kleinen veranstaltungsraum relativ viele, sehr bunt gemischte leute, was ich erfreulich fand, andererseits fand ich, dass für die grösse des wahlbezirks erschreckend wenig leute interesse an ihren kandidaten zeigten.
mir fiel auf, dass die kandidaten in 3D alle sehr viel sympathischer als auf ihren plakaten wirkten. mit der ausnahme des CDU-kandidaten philipp lengsfeld, der in echt genauso strebermässig wirkt, wie auf seinen plakaten. herr lengsfeld hat allerdings, wie man seinem presse- und plakatbild entnehmen kann, eine besondere fähigkeit, die er für so wichtig hält, dass er sie in ebendiesem pressebild zentral herausstellt: er kann einen stift auf ein leeres, unbeschriebenes, kariertes heft halten.
philipp lengsfeld benutzt einen stift
die veranstaltung begann damit, dass jeder kandidat sich und seine zentralen politischen botschaften ungefähr 4 minuten lang vorstellen durfte. erstaunlicherweise klappte das minutengenau. hartmut bade von der FDP fing an. der erste eindruck war sehr sympathisch. in seiner sprache schwang etwas hessisch mit, was ich mag und er sagte anfangs sachen („damit ich in den bundestag komme, müsste die FDP auf ungefähr 40% kommen“) die davon zeugten, dass er sich selbst nicht so irrsinnig wichtig nimmt, was ich auch mag. als er dann aber versuchte zu erklären, dass die FDP in der bundesregierung ganz tolle sachen mache, wechselte seine sprache ins unangenehm schablonenhafte. ich glaube diese out-of-body-experiences, in denen politiker ihren körper verlassen und sich in sprechende parteiprogramme wandeln, sind nicht nur für die zuhörer schwer erträglich, sondern auch für die politiker selbst.
nicht schablonenhaft, sondern in breitgedroschenen phrasen sprach eva högl (SPD). sie ratterte um die 20 „bürger-und-bürgerinnen“ oder „kandidaten-und-kandidatinnen“-konstruktionen pro minute raus, flocht zweimal pro minute ein lockeres „meine damen und herren“ ein und war bemüht, als käme sie frisch vom rhetoriktraining, wirklich jeden menschen mit seinem namen anzusprechen. das sollte eindeutig verbundenheit mit dem wahlvolk, dem kiez, den menschen signalisieren, wirkte auf mich aber unangenehm kriecherisch fraternisierend. andererseits war sie wirklich gut verständlich, modulierte ihre sprache mustergültig und wirkte durchaus aufrichtig und engagiert, als sie über ihre politische arbeit und ansichten sprach. für meinen geschmack allerdings einen ticken zu dick aufgetragen.
klaus lederer von der linken wirkte jovial, jugendlich, offen und fast lausbübisch als er vor der veranstaltung den raum betrat und seine konkurrenten begrüsste. wenn er politisch wird, also über politik redet, verfliegt die jovialität und er verwandelt sich in einen schimpfenden rohrspatz. allerdings einer der durchaus kompetent und wohlinformiert wirkt, der sauber argumentiert und das ganze auch noch ansatzweise pragmatisch und konkret (statt dogmatisch und verallgemeinernd). würde er etwas weniger verbissen und empört argumentieren, könnte ich mir sogar vorstellen, ihn richtig gut zu finden.
herzensgut, sympathisch, aufgeregt und echt war therese lehnen von den piraten. ich würde keinen augenblick an ihren guten absichten zweifeln, was ich aber vergeblich suchte war substanz und ansätze von durchsetzungsvermögen oder -willen.
(politische) substanz fehlt leider auch philipp lengsfeld. er hat die rhetorischen fähigkeiten von edmund stoiber und kann sehr schön gestikulieren. aber sein hauptargument, dass man ihn wählen solle weil die wahl für schwarz-gelb schon so gut wie entschieden sei und er sich dann als angehöriger einer regierungsfraktion im bundestag maximal effektiv für seinen wahlkreis, also den wedding und mitte, einsetzen könne, war wenig überzeugend. er bekundete zwar mehrfach, dass er furchtbar ehrlich sei und im gegenteil zu seinen konkurenten seinen wählern nicht das blaue vom himmel versprechen würde, verstand aber offenbar nicht, dass zum streiten nicht nur das behaupten gehört, sondern das überzeugen.
philipp lengsfeld versucht mit jedem wort und jeder geste einen politiker darzustellen und scheitert dabei so grandios, dass ich beinahe mitleid bekam. da er sich aber mehrfach verbal extrem unangenehm vergallopierte, konnte ich das mit dem mitleid schnell ausknipsen. gegen die doppelte staatsbürgerschaft argumentierte er mit dem „totschläger vom alexanderplatz“, der sich dank seiner doppelten staatsbürgerschaft dem zugriff der deutschen staatsgewalt mit einer reise in die türkei entzog. das argument war so absurd, dass sogar sein kumpel von der FDP deutlich intervenierte und den bullshit von legsfeld bullshit nannte (meine worte). philipp lengsfeld erklärte auch sein gesellschaftsbild in dem es zwei arten von menschen gibt: menschen wie er, die arbeiten, und harz-4-empfänger.
özcan mutlu von den grünen trug ein grünes polohemd mit rotem kragen. er kam als letzter, aber immer noch eine minute vor dem veranstaltungsbegin. ich bin ja fest entschlossen den grünen dieses mal nicht meine zweitstimme zu geben (aus gründen), aber özcan mutlu bekommt mit ziemlicher sicherheit meine erststimme.
özcan mutlu war einer der wenigen der keine schablonenafte sprache nutzte, sondern frei schnauze redete, teilweise sehr emotional aber trotzdem ziemlich sachlich und sehr konkret. er schaffte es nicht nur seine positionen klar und deutlich (und ohne populismus) auszudrücken, sondern auch mit wenigen sätzen philipp lengsfelds ahnungslosigkeit und hohlraum-argumente freizulegen. mir gefiel auch wie er eva högl einmal kurz anpiekste, woraufhin deren fragile floskel-maske unter einem heftigen sarkasmus- und zickigkeitsausbruch zerbrach. (högl fand das millionengehalt von flughafenchef mehrdorn eine schweinerei und nicht nachvollziehbar, worauf mutlu „faktencheck“ rief und darauf hinwies, dass dem aufsichtsrat des berliner flughafens bis vor kurzem zwei SPD männer vorsassen.)
mir war özcan mutlu sehr sympatisch, aber ich finde auch, dass er am besten zum wahlkreis passt, zumindest so wie ich den wahlkreis wahrnehme oder wahrnehmen möchte: bunt, lebendig und dynamisch, aber auch geprägt von tiefen sozialen gefälle, integrationsproblemen und arbeitslosigkeit. die lösungen die mutlu vorschlug fand ich pragmatischer und weniger ideologisch geprägt als die von klaus lederer oder den linken. wobei klaus lederer persönlich gar nicht so ideologisch geprägt wirkte, sondern eher aufrichtig besorgt.
bei allen sechs kandidaten war echte, aufrichtige leidenschaft und engagement für politik zu spüren. alle (bis auf lengsfeld) liessen durchscheinen, dass sie nicht mit allen entscheidungen ihrer parteien einverstanden sind und „persönlich“ teilweise etwas andere meinungen vertreten. so konnten sich auf eine publikumsfrage hin eigentlich alle kandidaten (bis auf lengsfeld) ein bedingungsloses grundeinkommen vorstellen — zumindest auf die lange sicht. alle (bis auf lengsfeld) waren gegen ein bewaffnetes eingreifen in syrien und waffenexporte, wobei högl und bade sich rhetorisch geschickt aus der schlinge zogen und elegant relativierten. beim versuch zu relativeren stolperte philipp lengsfeld ganz böse, als er zum thema waffenexporte aus dem CDU-wahlprogramm vorlas:
CDU und CSU verfolgen das Ziel, weltweit die Verbreitung von konventionellen Waffen stärker zu kontrollieren.
das war der witz des abends und der zeitpunkt an dem ich zum ersten mal glaubte, dass philipp lengsfeld eventuell ein schauspieler, eine art politik-darsteller sein könnte.
ich fand das ganz grossartig, dass das sprengelhaus diese veranstaltung organisisert hat. es ist das erste mal, dass ich mir die direkt-kandidaten meines wahlkreises zu einer bundestagswahl genauer angesehen habe. aus erster hand, direkt. ich habe mir zwar schon gedacht, dass ich özcan mutlu am sympathischsten und unterstützungswertesten fände, aber zu sehen, dass die menschen die sich hier zur wahl stellen ihre sache ernst nehmen, sich enorm engagieren und aufrichtig kämpfen fand auf eine art sehr beruhigend. heute abend ist mir der wert der erststimme bei einer bundestagswahl zum ersten mal in meinem leben richtig bewusst geworden.
auf spiegel online kann man seine direktkandidaten mit hilfe von antworten der kandidaten auf abgeordnetenwatch „checken“: kandidatencheck.spiegel.de
das ding scheint zu funktionieren, denn mir wurde vom kandidatencheck özcan mutlu wärmstens ans herz gelegt: „18 Übereinstimmungen bei 24 Thesen“