heiner
wenn heiner irgendwo stand, hatte er immer die fäuste geballt. das wirkte aber nicht aggressiv, sondern eher introvertiert, als ob er sich sammelte. heiner war gross, kräftig und grau-meliert-bärtig — und mein erster chef nach dem abitur.
ich hatte mir nach der schule überlegt, etwas von der welt sehen zu wollen, und landete dann für meinen zivildienst in der nähe von fulda, in einer anthroposophischen lebensgemeinschaft, in der „Menschen mit und ohne Hilfebedarf“ zusammenleben. das zusammenleben war und ist WG-artig in familienverbänden, in grossen häusern organisiert. gearbeitet wurde in werkstätten, im garten, der landwirtschaft, einer bäckerei oder im dorfladen.
mein ehemaliger judo-lehrer aus aachen war vor einigen jahren in diese lebensgemeinschaft gezogen, hatte mit seiner frau eine der familien übernommen und leitete die weberei in sassen. meine mutter hatte nach meiner kurzen judo-karriere kontakt mit den beiden gehalten und sie auch einmal dort besucht. die erzählungen meiner mutter vom leben im dorf hatten mich fasziniert, deshalb bewarb ich mich für meinen zivildienst dort, wurde genommen und dachte, dass ich dann auch in der weberei landen würde. ich wurde dann aber der holzwerkstatt zugeordnet. heiner leitete dort den betrieb, war aber offiziell nicht der werkstattleiter. er war kein anthroposoph und lebte auch nicht in der dorfgemeinschaft, sondern etwas ausserhalb von fulda, in gichenbach.
heiner brachte mir den umgang mit den grossmaschinen bei, mit der kreissäge, der schleifscheibe, der dickte und das hat er offensichtlich gut gemacht, denn nach 15 monaten zivildienst und einem weiteren jahr als angestellter in der lebensgemeinschaft hatte ich noch alle finger. in der holzwerkstatt bauten wir gemeinsam mit ungefähr einem dutzend „dörflern“ vogelnistkästen. in den pausen standen wir hinten an der rampe, und heiner rauchte roth-händle ohne filter. er mochte an den roth-händles, dass sie ohne zusatz von aromastoffen auskamen. ich fand das kraut eklig, aber zu heiner passte die marke: schnörkellos, klar, konsequent, naturnah. zehn oder zwanzig jahre später hatte er keine lust mehr zu rauchen und hörte, ganz schnörkellos, von einem auf den anderen tag auf.
heiner war zwar mein chef, aber unser umgang war immer auf augenhöhe, trotz des altersunterschieds von ungefähr zwanzig jahren. ich war zwar frisch aus der schule und naseweis, aber ich war lernwillig, formbar und hatte noch kein sendungsbewusstsein. mein ziel war, so viel wie möglich zu lernen, und auch wenn ich mir das anthroposophie-gedöns distanziert, aber durchaus neugierig anschaute, war ich wie ein schwamm für alles, was mir heiner beibrachte. wobei beibringen das falsche wort ist: heiner zeigte mir, wie es geht, und ich machte es dann so. heiner hatte zwar nach einer kurzen karriere als polizist irgendwas soziales studiert, aber er agierte nie wie ein pädagoge, auch nicht im umgang mit den menschen mit behinderungen. er zeigte, wie es geht, und so wurde es dann gemacht. er sagte, was ihm gefiel und was nicht. er redete nicht drumrum, war aber immer freundlich.
ich weiss gar nicht, wie ich unsere beziehung am besten beschreiben soll. wir waren jedenfalls über 30 jahre befreundet, auch wenn wir uns alles andere als regelmässig sahen. nur vom sommer 1989 bis ende 1990 sahen wir uns täglich. nach meinem zivildienst kehrte ich für ein paar monate zurück nach hause ins rheinland, um dann im frühjahr 1991 drei monate bei heiners neuem arbeitsplatz in fulda (bei „grümel“) zu arbeiten. für die zeit zog ich bei heiner in gichenbach ein, und das ist auch die zeit mit heiner, an die ich mich am intensivsten erinnere — und die auf mehrere arten prägend war.
heiner wohnte zur miete im erdgeschoss eines grossen hauses in gichenbach, einem kleinen, abgelegenen dorf in der nähe von gersfeld und fulda. er und seine familie hielten alle möglichen tiere: gänse, enten, später auch wollschweine, schafe und immer auch einen hund. nebenbei war heiner noch jäger und kannte (natürlich) den förster. er kannte eigentlich alle in gichenbach, glaube ich, und so lernte ich in meiner zeit bei grümel auch alle möglichen leute aus dem dorf kennen: den holzrücker mit den grossen händen, den förster, die nachbarn, den holzhändler gegenüber, den tankstellenbetreiber „erbse“.
wir fuhren jeden morgen gemeinsam nach fulda, zur arbeit bei grümel. dort fuhren wir dann getrennt, jeder mit einer gruppe schwer vermittelbarer jugendlicher mit einer pritsche durch fulda, um dort gärten und wasseraufbereitungsanlagen zu mähen oder hecken zu schneiden. im vorfeld zu diesem job war ich voller zweifel, ob ich als naiver jungspund mit abitur und ein paar monaten zivildienst überhaupt als vorarbeiter von schwer vermittelbaren – also als schwierig geltenden – jugendlichen klarkommen würde. erstaunlicherweise funktionierte das gut. das bisschen autorität, das ich ausstrahlte, wurde von niemandem angezweifelt – auch nicht von e., der vorbestraft war, weil er einem rentner eine plastiktüte mit einem brathähnchen entrissen hatte und mir irgendwann seine selbst tätowierten, fickenden ottifanten auf seinem rechten unterarm zeigte.
die arbeit war körperlich anstrengend, deshalb war mein bedürfnis, in der zeit bei heiner abends auszugehen oder etwas zu unternehmen, nur minimal ausgeprägt. gelegentlich fuhren heiner und ich abends durch den wald zum trinken. ich erinnere mich, dass ich eine weile brauchte, um auf den geschmack von becks zu kommen, es dann aber irgendwann sehr gerne mochte. ich erinnere mich an den geruch und die piepsenden geräusche von gänseküken, ich lernte, ein reh „aus dem fell zu schlagen“, und ich erinnere mich, wie wir gemeinsam in der küche sassen, rauchten und zeitung lasen.
an den alltag in diesen drei monaten bei heiner (und astrid, heiners damaliger frau) erinnere ich mich insgesamt nur schwach. es gab damals kein internet und bei heiner keinen fernseher. alle neuigkeiten aus der welt und der nachbarschaft erreichten uns über die fuldaer zeitung. wir verbrachten angesichts des eingeschränkten freizeitangebots in gichenbach wahrscheinlich sehr viel zeit miteinander — und heiner und ich kamen offenbar gut miteinander zurecht.
heiner erzählte zwar gerne und viel, aber übermässig viel geredet haben wir auch nicht. wir konnten, wie hunde, ganz gut schweigend unsere zeit miteinander verbringen. durch den altersunterschied und das erfahrungsdelta gab es wahrscheinlich schon ein beziehungsgefälle. aber heiner hatte in unserer beziehung nichts väterliches oder meisterhaftes, und ich war eher neugieriger beobachter von heiners lebensentwurf als eifriger schüler oder nacheiferer. wahrscheinlich kann man unsere beziehung am besten als klassische männerfreundschaft beschreiben: viel über die welt, die vergangenheit und die zukunft reden, wenig bis gar nicht über gefühle, gemeinsam trinken, fachsimpeln.
ich wollte später psychologie studieren, aber wollte die möglichkeit, ein leben wie heiner zu führen, als option mitnehmen und später™ mein interesse an so einem leben nochmal prüfen. am ende bin ich ein stadtmensch geworden, habe nie wieder ein reh aus dem fell geschlagen, und das erste tier zog erst vor fünf jahren bei uns ein. aber heiner habe ich immer wieder besucht, und sowohl das wiedersehen mit ihm als auch die landschaft der rhön haben mich jedes mal sentimental berührt.
zuletzt habe ich heiner zu seinem 70. geburtstag besucht, mit der beifahrerin. heiner war schlanker, ich fetter geworden, aber die vertrautheit, die männerfreundschaftliche nähe war sofort wieder da. ein bisschen väterlich war heiner dann doch, als er mich auf seine unnachahmliche art darauf hinwies, dass ein paar kilo gewichtsverlust sich durchaus positiv auf das „fahrgestell“ im alter auswirken würden. er wünschte sich, früher auf sein gewicht geachtet zu haben – dann hätte er jetzt mit 70 weniger probleme mit seinem fahrgestell. noch schöner als die geburtstagsfeier selbst war das frühstück am nächsten morgen. wir lasen zwar nicht mehr gemeinsam fuldaer zeitung, aber sassen in heiners erweiterten, sonst weit verstreuten familienkreis zusammen. ich lernte die inzwischen erwachsenen töchter henriette und louise neu kennen, die ich zwar noch von früheren besuchen kannte, die sich aber peinlicherweise detaillierter und genauer an mich erinnerten, als ich an sie.
die beifahrerin und ich sprachen mit heiner über unsere idee, uns einen hund anzuschaffen – auch, weil mir offenbar heiners meinung weiterhin sehr wichtig war. heiner war kein freund von hunden in der stadt, aber als wir sagten: „pudel“, sagte er: „pudel ist gut!“ dass frida den segen von heiner bekam, macht mich bis heute froh. ich bin nur sehr traurig, dass ich ihm frida nie vorstellen konnte, denn irgendwann im sommer 2023 bekam ich einen brief, in dem stand, dass heiner am 10.06.2023 verstorben ist.
ich schrieb vor ungefähr einem halben jahr, dass ich in sachen trauer nicht besonders gut bin. ich bleibe so um die drei bis zehn jahre in der denial-/leugnungsphase stecken und überspringe dann irgendwann die anger-, bargaining- und depressionsphasen, um zu so etwas wie akzeptanz zu kommen. heiners tod mag ich aber bis heute nicht akzeptieren.
in der beilage ist ein scan von heiners traueranzeige, mit einem bild von heiner, das genau dem bild von heiner vor meinem inneren auge entspricht.